Entscheidungen
Das von den Medizinethikern Tom L. Beauchamp und James F. Childress erstmalig 1979 veröffentlichte Buch Principles of Biomedical Ethics stellt bis heute eines der einflussreichsten Werke für ethische Fragestellungen in der Medizin dar [vgl. Marckmann, G. (2007), S 1.2]. Das Werk ist von hoher Relevanz für die Fragestellung dieser Arbeit, da es bezüglich der Entwicklung eines ethischen Rahmenkonzepts für moralisch richtige Entscheidungen in der Medizin inhaltlich und methodologisch eine Pionierarbeit darstellt. Sie gibt nicht nur Orientierung für die in der (Gen-)Forschung oder „am Krankenbett“ entstehenden bioethischen bzw. medizinethischen Fragestellungen, sondern auch für ethisch fundierte Allokationsentscheidungen.
Das in dem Buch seit 1979 in fünf Neuauflagen fortentwickelte analytische Rahmenkonzept (engl.: moral framework) zur Entwicklung moralisch richtiger Entscheidungen beruht auf den folgenden vier Grundprinzipien:
Respect for Autonomy (deutsch: Respekt der Autonomie)
Nonmaleficience (deutsch: Nichtschaden)
Beneficience (deutsch: Wohltun)
Justice (deutsch: Gerechtigkeit).[59]
Diese sollen nach den Autoren als Richtlinien für eine professionelle ethische Reflexion dienen und spiegeln ein pluralistisches Moralverständnis wieder, das als „common morality“ bezeichnet wird. Die Prinzipien sind verschiedenen klassischen Ethiken (siehe Abschnitt 3.2) und medizinischen Traditionen entlehnt. Beauchamp und Childress entwickeln folglich keine universelle Moraltheorie, die sich auf ein einziges Moralprinzip beschränkt. Vielmehr handelt es sich um ein Rahmenkonzept, das eine systematische Identifizierung und Reflexion moralischer Probleme erlaubt [vgl. Beauchamp, T. / Childress, J. (2001), S. 15]. Die Autoren rechtfertigen ihre Vorgehensweise vor allem damit, dass die zueinander im Wettstreit stehenden Handlungsmaxime der Universaltheorien in einer komplexen Umwelt und pluralistischen Gesellschaft keinesfalls für jedes beliebige Problem der Medizin- oder Allokationsethik eine eindeutige Lösung bereithalten (siehe Abschnitt 3.2 dieser Arbeit).
Medizinhistorisch betrachtet haben die Prinzipien Wohltun und Nichtschaden für das medizinische Berufsethos seit jeher eine große Rolle gespielt.[60] Respekt der Autonomie des mündigen Bürgers (bzw. des mündigen Patienten) und Gerechtigkeit sind in der Medizin erst im Zuge der Aufklärung[61] und später mit dem Aufkommen demokratischer Bürgergesellschaften[62] im 19. Jahrhundert ins Blickfeld der politischen Diskussion geraten [vgl. Beauchamp, T. / Childress, J. (2001), S. 12].
Dass das Prinzip Respekt der Autonomie in die Theorie Beauchamps und Childress Eingang gefunden hat, resultiert auch aus der in den 1960er und 1970er Jahren aufkommenden Bürgerrechtsdebatte [vgl. Schöne-Seifert, B. (2007), S. 16]. In Folge dieser ist dem Recht der Patienten auf Aufklärung und Selbstbestimmung bezüglich medizinischer Eingriffe ein zunehmend höherer Wert beigemessen worden [vgl. Steigleder, K. (2006), S. 29].[63]
Für die Frage nach ethisch reflektierten Verteilungsentscheidungen und eine in moralpluralistischen Gesellschaften als gerecht empfundene Prioritätensetzung bei der Allokation von Gesundheitsressourcen ist vor allem das Prinzip der Gerechtigkeit von Interesse. Beauchamp und Childress untersuchen zur Begründung dieses Prinzips zunächst die klassischen Gerechtigkeitstheorien (siehe auch Abschnitt 3.2 der vorliegenden Arbeit). Dabei beziehen sie insbesondere auch Norman Daniels′ Argumentation für ein gerechtes Gesundheitssystem in die Analyse mit ein, die auf dem Grundsatz einer „fairen Chancengleichheit“ (engl.: fair opportunity) nach John Rawls basiert (siehe Abschnitt 5.1.2). Demnach müssen sich gerechte Allokationsregeln oder -prinzipien immer auch an den Auswirkungen ihrer Verteilung messen lassen.[64] Das Konzept von Beauchamp und Childress vereinigt somit (auch nach eigener Aussage) sowohl utilitaristische als auch egalitaristische Positionen [Beauchamp, T. / Childress, J. (2001), S. 234-236].
Zur Spezifizierung von Allokationsentscheidungen bedienen sich die Medizinethiker des Modells H. Tristram Engelharts, der zwischen vier Ebenen unterscheidet: der oberen und der unteren Ebene der Makroallokation sowie der oberen und der unteren Ebene der Mikroallokation. Sie weisen allerdings darauf hin, dass eine Trennung auf Grund der Interdependenzen zwischen diesen häufig unscharf sein muss.
Auf der oberen Makro-Allokationsebene wird über die Aufteilung des Gesamtbudgets für öffentliche Zwecke entschieden. In diesem Zusammenhang konstatieren die Autoren, dass die Gesundheit nicht das einzige Ziel bzw. den einzigen sozialen Wert darstellt, sondern mit anderen gesellschaftlichen Zielen (Bildung, Wohnen, Verteidigung, Kultur und Erholung etc.) um begrenzte Ressourcen konkurriert. In Abgrenzung zu anderen Meinungen[65] kommen sie zu dem Schluss, dass dieses Problem ein moralisches und nicht bloß ein rein politisches sei [Beauchamp, T. / Childress, J. (2001), S. 251]. Die Autoren halten gemäß dem Prinzip einer „fairen Chancengleichheit“ (und der aus den klassischen Gerechtigkeitstheorien abgeleiteten „common morality“) entgegen, dass eine Verteilung, die nicht wenigstens ein Minimum an Gesundheitsleistungen garantiert, abzulehnen ist [vgl. ebd., S. 225-251].
Auf der unteren Makro-Allokationsebene wird die Verteilung innerhalb des Gesundheitsbudgets (engl.: health budget) vorgenommen. Hierbei legen Beauchamp und Childress fest, dass zur rationalen Bewertung der Verteilungsgerechtigkeit alle Handlungen eingeschlossen werden müssen, die dazu geeignet sind, die Bevölkerungsgesundheit zu befördern oder zu schützen. Sicherheitsvorschriften und Unfallverhütungsmaßnahmen, Umwelt- und Verbraucherschutz oder Nahrungsmittel- und Arzneimittelgesetze sind auf dieser Allokationsebene zu berücksichtigen. Dabei verdeutlichen die Autoren die Komplexität und die Größe des Entscheidungsraumes gesundheitspolitischer Entscheidungen anhand des folgenden Beispiels [vgl. Beauchamp, T. / Childress, J. (2001), S. 251]: Angenommen, das gesellschaftlichen Ziel sei es, Chancengleichheit bezüglich des Gutes Gesundheit herzustellen. Vor dem Hintergrund der vorliegenden Definition wäre es zur Erreichung des Ziels nicht die effektivste Strategie, alle Bürger mit der gleichen Anzahl an Gesundheitsleistungen auszustatten (z.B. in Form von Gutscheinen), da andere Einflussfaktoren, wie der individuelle Lebensstil, die Wohnsituation oder der Hygienestandard in der Betrachtung vernachlässigt würden.
Auf der oberen Mikro-Allokationsebene findet eine Verteilung zwischen den Versorgungsbereichen des Gesundheitswesens statt, nachdem die Gesellschaft die Ausgabenhöhe für Gesundheitsleistungen im engeren Sinn (engl.: health care) festgelegt hat. Nach Ansicht der Autoren können die zur Verfügung stehenden Ressourcen für Programme, Projekte im Zusammenhang mit der Krankenbehandlung oder präventive Maßnahmen verwendet werden. Sie stellen fest, dass in den meisten Industrieländern die Ausgaben für die Behandlung von Krankheiten weitaus höher sind als die für Prävention, obwohl Präventionsprogramme ihrer Meinung nach häufig effektiver und effizienter (d.h. im Vergleich zu geringeren Kosten) Leiden verminderten und Lebensqualität erhöhten [vgl. Beauchamp, T. / Childress, J. (2001), S. 251]. Die Ausgabenanteile hingen allerdings auch davon ab, inwiefern die Zusammenhänge zwischen Krankheit, Verhalten und Umwelteinflüssen bekannt seien. Implizit setzen sie damit also auch für die von ihnen grundsätzlich favorisierten Präventionsmaßnahmen eine evidenz-basierte Fundierung (siehe Abschnitt 3.1.4) voraus und zeigen zudem die Interdependenz dieser zur darüber liegenden Allokationsebene auf. Den Grund für den, im Verhältnis zu den Behandlungsausgaben, kleinen Kostenanteil der Präventionsmaßnahmen erklären sie mit dem Umstand, dass diese in der Regel die Morbidität und vorzeitige Mortalität „statistischer Leben“ senken, medizinische Eingriffe hingegen auf „identifizierbare Leben“ abzielen. Historisch betrachtet haben Gesellschaften aber vor allem diese konkreten, identifizierbaren (Menschen-)leben bevorzugt, auch wenn bestimmte Präventionsmaßnahmen statistisch nachweisbar (sprich: evident) effektiver und effizienter sind [Beauchamp, T. / Childress, J. (2001), S. 252]. Dementsprechend führt die menschliche – nicht-rationale – Intuition zu einem moralischen Konflikt: Sollten mehr Ressourcen für die Rettung und Behandlung der medizinisch bedürftigen Menschen oder für die (zukünftige, abstrakte) Verhinderung solcher Situationen verwendet werden?
Desweiteren gehen Beauchamp und Childress, vor dem Hintergrund einer ethisch reflektierten Allokation auf der oberen Mikroebene, der Frage nach, inwiefern die...