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E-Book

Anti-Europäer

Breivik, Dugin, al-Suri & Co.

AutorClaus Leggewie
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783518744697
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Die Griechenland-Krise und die mangelnde Handlungsbereitschaft im Umgang mit den Flüchtlingen haben nachdrücklich gezeigt, dass es um die Europäische Union derzeit nicht allzu gut bestellt ist. Parallel zu diesen internen Problemen mehren sich Stimmen unterschiedlichster Provenienz, die Europa attackieren und europäische Werte infrage stellen: Identitäre wie der Massenmörder Anders Breivik, Dschihadisten wie der Syrer Abu Musab al-Suri, »Eurasier« wie der Putin-Berater Alexander Dugin, illiberale Demokraten à la Viktor Orbán, aber auch einige Linkspopulisten am Rande von Syriza und Podemos.

Claus Leggewie porträtiert Wortführer und politische Unternehmer, die unabhängig voneinander, aber oft in ungewollter Komplizenschaft die »Festung Europa« schleifen wollen. Er erklärt, woher sie kommen, welche Pläne sie verfolgen und welche Mächtigen sie unterstützen. Und er fordert dazu auf, sich endlich politisch mit ihnen auseinanderzusetzen.

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<p>Claus Leggewie, geboren 1950, ist Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen und Mitherausgeber der <em>Blätter für deutsche und internationale Politik</em>.</p>

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Leseprobe

I. Identitäre: Anders Breivik


»Ich handelte im Auftrag meines Volkes,
meiner Kultur, meiner Religion, meiner Stadt und
meines Landes in Notwehr.«1

Anders Breivik vor Gericht (2012)

 

Am Morgen des 22. Juli 2011 detonierte im Regierungsviertel der norwegischen Hauptstadt Oslo eine 950 Kilogramm schwere Autobombe, die acht Personen tötete und Dutzende verletzte; wenig später erschoss ein als Staatsschutzoffizier getarnter Mann auf der dreißig Kilometer entfernten Insel Utøya weitere 69 überwiegend junge Menschen, die dort in einem Feriencamp der sozialdemokratischen Arbeiterpartei versammelt waren. Viele, die von diesem grässlichen Attentat in den Nachrichten hörten, werden an einen islamistischen Terroranschlag gedacht haben, zumal auch in Norwegen Schläfer und Al-Qaida-Sympathisanten vermutet wurden. Gegen solche war eine Übung gerichtet, die eine Spezialeinheit der norwegischen Polizei kurz vor dem Attentat durchgeführt hatte.

Mir kam spontan die amerikanische Stadt Oklahoma City in den Sinn. Dort hatte der Golfkriegsveteran Timothy McVeigh im April 1995 gemeinsam mit zwei Komplizen ein Regierungsgebäude in die Luft gejagt. 168 Menschen kamen damals zu Tode, darunter 16 Kinder im Kindergarten des Murrah Federal Building. McVeigh wurde gefasst und hingerichtet; über die genauen Motive seiner Tat wurde lange spekuliert, sicher ist nur, dass er die Bundesregierung in Washington »hasste«. Um diese zu bekämpfen, führte er das stehende Argument von Terroristen jedweder Couleur an, sei der Tod von Kindern als Kollateralschaden in Kauf zu nehmen.

Auch in Norwegen entpuppte sich rasch ein weißer Inländer als Täter, der ebenfalls die Regierung hasste.2 »Meine Strategie ist von al-Qaida übernommen«, prahlte Breivik nach seiner Festnahme. Und es stimmt ja: Der Einsatz einer Autobombe und das Abfeuern von Salven auf unschuldige Menschen kopiert im Detail Methoden von Attentätern, die sich in überheblicher Weise auf den Islam berufen – mit dem Unterschied, dass Breivik sein Leben nicht in der Manier von Selbstmordattentätern mit geopfert hat. Die Politiker, die Breivik auf der Insel anzutreffen erwartete, wollte er gefangen nehmen, in Anwesenheit der Jugendlichen niederknien lassen und zwingen, ein von ihm verfasstes Todesurteil zu verlesen, um sie anschließend mit einem Bajonett hinzurichten. Die Exekution wollte er mit seinem Smartphone filmen und im Internet posten. Öffentliche und im Netz dokumentierte Hinrichtungen sind bekanntlich eines der wichtigsten Terror- und Propagandamittel des Islamischen Staates.

Der zur Tatzeit 32-jährige Anders Behring Breivik rechtfertigte das Massaker damit, Norwegen und Europa gegen den vordringenden Islam und gegen den grassierenden »Kulturmarxismus« verteidigen zu müssen. Nicht Muslime oder Immigranten hatte er direkt ins Visier genommen, sondern die damals regierenden Sozialdemokraten, die den »Massenimport von Muslimen« angeblich eingeleitet hatten. Die Autobombe explodierte vor dem Büro des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Jens Stoltenberg, der unverletzt blieb; auf der Insel Utøya entging die ehemalige Regierungschefin Gro Harlem Brundtland dem Tod nur, weil Breivik sich verspätete und die in Norwegen sehr beliebte »Landesmutter« bereits abgereist war, als er seine halbautomatische Waffe entsicherte. Breivik verhöhnte sie während des Prozesses in einem frivolen Wortspiel als »Landesmörderin«, und Politiker, die Einwanderung fördern oder nicht unterbinden, heißen bei ihm – das kommt einem jetzt auch in Deutschland bekannt vor – »Landesverräter«. Auf Breiviks Exekutionsliste standen auch der damalige Außenminister Jonas Gahr Støre und Eskil Pedersen, der Chef der Jungsozialisten, denen die meisten Jugendlichen auf Utøya angehörten. Ihnen hatte Breivik den Tod zugedacht, weil es sich um künftige Kader der Arbeiterpartei handelte; ganz in der perversen Logik atavistischer Stammes- und Religionskriege wollte er vor allem die nächste Generation ausrotten.3

Vor Gericht nahm Breivik ein Jahr später für sich in Anspruch, im Sinne der Anklage nicht schuldig zu sein, im Schlussplädoyer reklamierte er angesichts der Politik seiner Regierung ein Recht auf Notwehr und Widerstand für sich:

 

Ich habe dokumentiert, dass die multikulturalistischen Politiker, Akademiker und Journalisten zusammenarbeiten und sich undemokratischer Methoden bedienen, um die norwegisch-ethnische Gruppe, norwegische Kultur und Traditionen, das norwegische Christentum, die norwegische Identität und den norwegischen Nationalstaat zu dekonstruieren. Wie kann es ungesetzlich sein, gegen diese verräterischen Menschen in den bewaffneten Widerstand zu treten? […] [E]s sind die universellen Menschenrechte, das Völkerrecht und das Recht auf Selbstverteidigung, die mir das Mandat erteilten, diesen präventiven Angriff auszuführen. Das Ganze war eine Reaktion auf die Effekte der Handlungen jener, die bewusst, und jener, die unbewusst unser Land zerstören. Verantwortliche Norweger und Europäer, die einen Hauch an moralischer Pflicht empfinden, werden nicht stillsitzend zusehen, wie die ethnischen Norweger zu einer Minorität im eigenen Lande und in der Hauptstadt gemacht werden. Wir werden gegen den Multikulturalismus in der Arbeiterpartei und gegen alle anderen politischen Aktivisten, die für dasselbe Ziel arbeiten, kämpfen. Die Angriffe am 22. Juli waren präventive Angriffe zur Verteidigung der Ur-Bevölkerung Norwegens, den ethnischen Norwegern, unser Kultur [sic]. Und deshalb kann ich keine Strafschuld anerkennen. Ich handelte im Auftrag meines Volkes, meiner Kultur, meiner Religion, meiner Stadt und meines Landes in Notwehr. Ich fordere daher, dass ich von den aktuellen Anklagen freigesprochen werde.4

 

Das Osloer Bezirksgericht erklärte Breivik trotz anderslautender Gutachten für zurechnungsfähig und verhängte im August 2012 die Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Entgegen seinen eigenen Einlassungen agierte Breivik nicht als Teil eines großen Netzwerks Gleichgesinnter, sondern, wie es in der Sprache der Terrorbekämpfung heißt, als »einsamer Wolf«.5

Terrorismus kennt man überwiegend als ein Gruppenphänomen: Eine größere Zahl von Personen agiert in mehr oder weniger hierarchisch organisierten Gruppen mit einem gewissen Unterstützer- und Sympathisantenkreis. Davon ist nicht nur der Staatsterror zu unterscheiden, den vor allem die totalitären Diktaturen Hitlers und Stalins auf der Grundlage des staatlichen Gewaltmonopols mit der Hilfe von Geheimdiensten ausgeübt haben, sondern auch individuell operierende Einzeltäter, die nicht in einer Befehlskette stehen und sich ihre Weltanschauung autodidaktisch in einem Prozess der Selbstradikalisierung erarbeitet haben. Ähnlich wie die frühen anarchistischen Einzeltäter verfolgen sie eine »Propaganda der Tat«; sie wollen ein Fanal setzen, auf das in ihrer narzisstischen Fantasie die Massen gewartet haben, um dann kollektiv loszuschlagen.

Auch einsame Wölfe wie Breivik leben keine Robinsonaden. Speziell über das Internet stehen sie unter dem Einfluss öffentlicher Kommunikation und suchen Gesinnungsgenossen und Nachahmungstäter. Seit Breivik im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses in Skien in Isolationshaft sitzt, hat er den Zugang zu seinem wichtigsten Informations- und Kommunikationsmedium, dem Internet, verloren. Darüber hatte er 2011 einen über 1500-seitigen Text per E-Mail an mehr als 1000 Empfänger versandt, samt einem Video, das ihn in Kampfmontur und martialischer Pose zeigt. So wollte der einsame Wolf die Witterung des Rudels aufnehmen, das auf zahllosen »islamkritischen«, das heißt zumeist islamfeindlichen, Webseiten, in Blogs und Chats unterwegs war. Im Netz fand er die Vorbilder, Gleichgesinnten und Hassfiguren, die er über Jahre hinweg aus dem kleinen Zimmer adressierte, das der beruflich gescheiterte Junggeselle bei seiner Mutter bewohnte. Aus dem Netz, das bei einseitigem und paranoidem Gebrauch eine Echokammer extremer und gleichgerichteter Meinungen ist, die für Diskurs und Kritik unerreichbar sind, sog Breivik die Energien für seinen minutiös über viele Monate vorbereiteten Mordanschlag auf.

Breiviks Kampf: 2083 – Eine europäische Unabhängigkeitserklärung


Im Titel des Online-Konvoluts standen die Jahreszahl 2083 und die Proklamation einer »europäischen Unabhängigkeit«. Hätte sich jemand durch die anderthalbtausend Seiten gekämpft und wäre hernach in Norwegen nichts geschehen, der Verfasser wäre für einen der üblichen Internet-Verrückten gehalten worden, die monatelang aus allen möglichen Quellen im Netz Passagen zusammenkopieren, die ihr paranoides Weltbild stützen, und damit den Rest der Welt behelligen. Breiviks ausdrückliches Vorbild war Ted Kaczynski, ein Sonderling, der als der »Unabomber« von einer abgelegenen Waldhütte im US-Bundesstaat Montana aus maschinenstürmerische Pamphlete in Umlauf brachte – und zwar als Beilage zu Briefbomben, die drei Menschen töteten und 23 schwer verletzten.

Die Lektüre von 2083 ist eine wahre Qual. Der Text wimmelt von Wiederholungen und Brüchen. Breivik zitiert länglich aus Wikis, Foren und Blogs, ähnlich wie Hitler streut er seitenweise autobiografische Anekdoten ein. Breiviks Narzissmus kommt zum Vorschein, wenn er weitschweifige Interviews mit sich selbst gibt und die Motive und Kränkungen darlegt, die ihn zum Massenmord geführt haben. Während Hitler das völkische Schrifttum seiner...

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